BpB: Herr Schanetzky, in Krisensituationen suchen Menschen nach Handlungsmustern und Erklärungen. Kann man aus wirtschaftshistorischer Perspektive, mit Blick auf die Geschichte von Wirtschaftskrisen, Hilfe leisten?
TS: Hier ist Bescheidenheit angebracht. So verständlich der Wunsch nach einer Positionsbestimmung durch Vergleich und Prognose ist: Empirisch ist die wirtschaftshistorische Rekonstruktion früherer Krisen problematisch, und noch schwieriger sind daraus Schlüsse für Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Konjunkturgeschichte beruht schon aufgrund der Datenlage bis weit in das 19. Jahrhundert hinein zumeist auf Schätzungen, oft vor dem Hintergrund einer bestimmten normativen Sicht. Auf einer Zeitachse X können wir zwar bestimmte Momentaufnahmen wie Insolvenzen, Börsenstürze oder Innovationen in den letzten 200 Jahren markieren (LINK ZUM DIAGRAMM) , jedoch ist es empirisch kaum möglich, die Effekte auf der Y-Achse präzise darzustellen oder sie gar zu verallgemeinern. Die jüngsten Erfahrungen unterstreichen überdies, wie verzerrt die Wahrnehmung von Krisen ablaufen kann. Schauen Sie auf den Zusammenbruch von Lehman Brothers. Er löste zwar eine Panikreaktion aus und setzte eine weltweite Kettenreaktion in Gang, stand aber entgegen der öffentlichen Wahrnehmung nicht am Beginn der eigentlichen Krise. Schwierigkeiten auf den Immobilien-, Hypotheken- und Rohstoffmärkten hatte es schon anderthalb Jahre zuvor gegeben, und auch die Konjunktur befand sich im September 2008 längst im Abschwung. Wissenschaftliche Berater warnten schon 2007 vor einer weltweiten Bankenkrise.
BpB: Inwieweit können uns Theorien über wirtschaftliche Zyklen helfen, das Gesamtbild besser zu verstehen?
TS: Wir können sicher einen idealtypischen Krisenverlauf beschreiben, der immer wieder zu beobachten ist: Krise bezeichnet dabei den häufig schockartigen Wendepunkt am Ende einer Hochkonjunktur, die bereits von starken wirtschaftlichen Ungleichgewichten wie Preisblasen oder Kapitalmangel geprägt ist. Oft wird dieser Umbruch vom Vertrauenslust an den Finanzmärkten ausgelöst. Darauf folgt ein Abschwung, ein unterer Wendepunkte, ein Wiederaufstieg, schließlich eine erneute Hochkonjunktur, so dass sich insgesamt eine zyklische Wellenbewegung ergibt. Über die Bestimmung der genauen Form dieser Wellen und ihrer Ursachen wird aber seit je gestritten. So wird zum Beispiel zwischen Konjunkturzyklen mittellanger Dauer (Juglar-Zyklen), kürzeren Investitionszyklen der Unternehmen (beschrieben durch Kitchin), Lebenszyklen von Wirtschaftssektoren und technologischen Innovationszyklen unterschieden. Kondratjew hat sogar Wellenbewegungen zu erkennen geglaubt, die ein halbes Jahrhundert umfassen (LINK ZUM DIAGRAMM). Zudem gibt es Modelle, die versuchen, die Relation von Wirtschaftswachstum und Einkommensverteilung zu beschreiben (Kuznets).
BpB: Inwiefern sind aus theoretischen Modellen wie diesen denn überhaupt konkrete Schlüsse zu ziehen?
TS: Genau diese Schwierigkeit ist ja derzeit mustergültig zu beobachten. Die meisten Presseartikel, Essays und Bücher fragen, in welchem Abschnitt eines idealtypisch verstandenen Krisenablaufs wir uns im Moment befinden. Und auch die Marktteilnehmer – Sparer, Investoren, Regierungen – schätzen ihre Risiken anhand dieser Überlegung ein. Weil die Lage aber unklar ist, folgen daraus Unsicherheiten. Politik kann Entscheidungen unter Verweis auf Unsicherheit jedoch nicht aus dem Weg gehen, und wo Experten noch die Widersprüche ihrer Modell gewichten, entscheidet sie notgedrungen pragmatisch. Allen Unsicherheiten zum Trotz beruhte ja nicht nur die deutschen Krisenpolitik von 2008/9 auf einer recht verbindlichen Interpretation der Lage: Sie ging davon aus, dass der konjunkturelle Einbruch vom energischen Gegensteuern der Notenbanken und Regierungen gedämpft werden konnte. Es ging um eine antizyklische Reaktion, die das Vertrauen wiederherstellen und zugleich die Konjunktur stimulieren sollte. Das galt nicht nur für die Bankenrettung, sondern auch für ebenso unerprobte Instrumente wie die massive Ausdehnung der Kurzarbeit oder die auf die Automobilindustrie gerichtete Abwrackprämie. Hinter ihnen stand die Hoffnung, dass der historisch außergewöhnliche Einbruch der Exporte nur von kurzer Dauer sein würde.
ZUM VERHÄLTNIS VON POLITIK, WIRTSCHAFT, WISSENSCHAFT UND PLANERN
BpB: War das Zusammenspiel von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft zu anderen Zeiten einfacher?
TS: In der Tat, in der Bundesrepublik der 1960er und frühen 1970er Jahren glaubte man, die wirtschaftliche Entwicklung systematisch planen und präzise steuern zu können. Diese Globalsteuerung wollte die Extreme der konjunkturellen Schwankungen abfedern und die Konjunktur insgesamt im positiven Wachstumsbereich verstetigen. Diese Machbarkeitseuphorie prägte damals alle gesellschaftlichen Bereiche und war sowohl in der westlichen Hemisphäre als auch im Ostblock auszumachen. Basis dafür war die Erfahrung der Wiederaufbaukonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg, die in Ost und West zu großen Wohlstandsgewinnen geführt hatte. Spätestens mit dem Ölpreisschock von 1973 folgte darauf jedoch die große Ernüchterung. Im Kern ging es darum, dass sich wissenschaftliche Prognosen als unzuverlässig erwiesen und eine eindeutige und widerspruchsfreie Lageanalyse in der Praxis unmöglich war. Und selbst wenn die Lage aus wissenschaftlicher Sicht eindeutig war, verhielten sich Politiker nicht so rational und uneigennützig, wie sich die Technokratietheorien das ursprünglich vorgestellt hatten. Dies ist die eigentliche Geburtsstunde eines Handlungsmodells, das uns wohlvertraut ist: Marktregulierung. Den Anfang machte die monetaristische Geldpolitik. Die Diskussion darüber begann nicht bei Reagan oder Thatcher, sondern unter Willy Brandt. Und umgesetzt wurde der neue Kurs erstmals von der Bundesbank im Frühjahr 1973.[...]'
Interview
durch Helmut Thöle und Matthias Rottmann am 01 Juli 2013 in Essen-Steele.
Full version of the interview you can download below (PDF)